Probleme in der Praxis bei mehrsprachigen Kindern
Mehrsprachige Kinder – d.h. Kinder, die in mindestens zwei Sprachen aufwachsen oder eine Nicht-Erstsprache erwerben – stellen in der logopädischen Praxis besondere Herausforderungen dar. Viele der geschilderten Fälle und Problemstellungen sind typisch: wenn Kindes- und/oder Elternerstsprache unklar ist, wenn die Eltern mangelhafte Deutschkenntnisse haben, oder wenn normative Testverfahren nur einsprachig sind.
Zentrale Problemfelder
- Unklare Abklärung (Diagnostik) der Erstsprache
Häufig wird nicht systematisch überprüft, ob eine Auffälligkeit auch in der Muttersprache vorliegt, und ob es sich um eine echte Sprachentwicklungsstörung handelt oder um eine Verzögerung durch mangelnden Sprachinput in der Zweitsprache. Viele diagnostische Verfahren und Normen sind auf einsprachig deutschsprachige Kinder ausgelegt und berücksichtigen nicht die Varianz durch Mehrsprachigkeit. (logopaedie.com) - Kommunikation mit Erziehungsberechtigten Wenn Eltern nur gebrochen Deutsch sprechen, entstehen Verständnisprobleme: bei der Schilderung der Symptome, bei der Zusammenarbeit, beim Verständnis von Therapiezielen. Es ist oft schwierig, einzuschätzen, wie viel Sprachförderung zuhause stattfinden kann und wie stark die Herkunftssprache gepflegt wird.
- Abgrenzung: medizinisch/logopädisch vs. pädagogisch
Es wird manchmal argumentiert, dass gewisse Auffälligkeiten nicht medizinisch/logopädisch behandelt werden sollten, sondern eher als pädagogische Probleme, z. B. wenn ein Kind wenig deutsch spricht, aber im Elternhaus eine andere Sprache dominiert. Die Frage ist: ab wann liegt eine Sprachentwicklungsstörung vor, die logopädische Intervention benötigt? Die Grenze ist oft unscharf und von der Erfahrung des Therapeuten, vom vorhandenen Wissen über Mehrsprachigkeit und von der Unterstützung durch Eltern und Institutionen abhängig. - Strukturprobleme im System
-Unzureichende Fortbildung für Logopäden in Mehrsprachigkeit, interkultureller Kompetenz und Diagnostik.
-Fehlende standardisierte diagnostische Instrumente, die mehrsprachige Kinder ausreichend berücksichtigen.
-Mangelnde Ressourcen bei Übersetzung/ Dolmetscherdiensten.
-Wirtschaftliche und abrechnungstechnische Rahmenbedingungen, die nicht ausreichend anerkennen, wie viel zusätzlicher Aufwand Mehrsprachigkeit verursacht (z. B. längere Anamnese, mehr Elterngespräche, evtl. aufwändigere Diagnostik). - Fehlende frühzeitige bzw. gezielte Intervention
Weil oft fälschlicherweise angenommen wird, Mehrsprachigkeit führe zu Verzögerungen, aber keine Sprachentwicklungsstörung vorliegt, wird Therapie hinausgezögert. Zeit, in der sich Therapeuten und Eltern gemeinsam Fördermöglichkeiten erarbeiten könnten, geht verloren. Studien zeigen, dass frühzeitige und spezifische Intervention wichtig ist. (dbl Logopädie)
Was sagen Forschung und Verbände?
- Der Deutsche Bundesverband für Logopädie (dbl) warnt vor drei häufigen Fehlannahmen:
- dass das Sprechen der Herkunftssprache den Deutscherwerb störe;
- dass Mehrsprachigkeit Kinder überfordere;
- dass mehrsprachige Kinder keine Logopädie benötigen. dbl Logopädie
- Wissenschaftliche Evidenzen zeigen, dass Modelle und Interventionen, die aus einsprachigen Normdatensätzen abgeleitet sind, nicht ohne Weiteres auf mehrsprachige Kinder übertragbar sind. Es braucht speziell angepasste Diagnostik und Therapieansätze. (dbl Logopädie_22)
- Es gibt Fortbildungsangebote, die Logopäden befähigen, kultursensible, mehrsprachigkeitsbezogene Diagnostik und Beratung durchzuführen. Beispiele: Fokusweiterbildungen in der Schweiz oder Fortbildungen zu Mehrsprachigkeit und interkultureller Kommunikation. screemik.de+3Logopädie Schweiz+3Doepfer Akademie+3
Mögliche Lösungsansätze
Auf Basis von Praxisberichten und wissenschaftlicher Literatur lässt sich ein Maßnahmenkatalog erstellen:
Maßnahme | Beschreibung |
| Erhebung der Sprachbiografie | Systematische Anamnese: welche Sprachen werden wie viel und wie häufig zuhause gesprochen? Wie ist die Sprachentwicklung in der Herkunftssprache? Gibt es Auffälligkeiten dort? |
| Differenzierte Diagnostik | Einsatz von mehrsprachigkeits-adäquaten Testverfahren (wo verfügbar), Beobachtungen in spontaner Sprache, Sprachproben, evtl. Verfahren wie Screening in der Erstsprache. Tests nicht allein auf Deutsch. |
| Parentalberatung und Einbindung | Eltern darin unterstützen, Sprachinput zu erhöhen, Sprachmodelle anzubieten. Beratung, wie z. B. Mutter in der Erstsprache zu sprechen, Deutsch in anderen Kontexten intensiver zu fördern. Unterstützung und Anleitung, wie Eltern in beiden Sprachen sinnvoll fördern können. |
| Interkulturelle Kompetenzen der Therapeuten | Schulungen in kultureller Sensibilität, Sprachsystemen (Phonologie, Grammatik) verschiedener Herkunftssprachen, Umgang mit sprachlichen Mischformen im Haushalt etc. |
| Dolmetscher bzw. Übersetzungsunterstützung | Wo nötig, Übersetzungsdienste bei Anamnese oder Elterngesprächen, oder Elternhelfer, die Mutter- oder Familiensprache sprechen. |
| Entwicklung und Erweiterung diagnostischer Instrumente | Forschung und Entwicklung von Normen und Tests, die Mehrsprachigkeit berücksichtigen, ggf. separate Normtabellen oder normalisierte Verläufe. |
| Frühe Förderung & Zugang zu Therapie | Schnellere Überweisung, wenn Auffälligkeiten bestehen – nicht erst ab einem bestimmten Alter oder nach langem Zögern. Förderung bereits in Kindergarten, Vorschule. |
| Therapeutische Rahmenbedingungen | Mehr Zeit für Anamnese, Elterngespräche etc. Flexible Therapieformen – vielleicht Gruppen, in denen Kinder mit ähnlichem sprachlichen Hintergrund gemeinsam gefördert werden könnten. |
Gewerkschaftliche und verbandliche Forderungen
Auf Grundlage der beschriebenen Probleme und Lösungsansätze lassen sich folgende Forderungen formulieren, die Logopädie-Verbände, Gewerkschaften und Berufsvertretungen an Politik und Kostenträger richten sollten:
- Angemessene Vergütung und Anerkennung des Mehraufwands Logopäden benötigen höhere Sätze, die den zusätzlichen Zeitaufwand für diagnostische Abklärungen, Elterngespräche und Übersetzungsarbeit abdecken. Der bürokratische Aufwand, der durch Mehrsprachigkeit, kulturelle Rückfragen etc. entsteht, darf nicht kostenneutral sein.
- Förderung von Fort- und Weiterbildung Pflicht- oder zumindest stark geförderte Angebote zur Weiterbildung in Mehrsprachigkeit, interkultureller Kommunikation und geeigneten Diagnostikverfahren. Zuschüsse oder Vergünstigungen, damit nicht nur Spezialpraxen, sondern alle Logopäden Zugang haben.
- Entwicklung und Finanzierung geeigneter diagnostischer Instrumente Öffentliche Förderung der Forschung und Entwicklung von Sprachtests, Normen und Screeningverfahren, die spezifisch auf mehrsprachige Kinder passen. Zulassung dieser Instrumente auch in Krankenkassen/Heilmittelverordnungen.
- Zugang zu Übersetzungs- und Dolmetschdiensten Offizielle Regelungen und Budgets, damit logopädische Praxen bei Bedarf Dolmetscher einbeziehen können – sei es in der Praxis oder digital – besonders bei der Elternanamnese und Therapieplanung.
- Frühere und durchgehende Begleitung Niedrigschwellige Angebote, z. B. Sprachförderung in Kitas, Eltern-Kind-Gruppen, mehrsprachige Angebote im Vorschulbereich. Gewährleistung, dass Kinder und Familien mit Migrationshintergrund dort schon unterstützt werden, bevor sprachliche Defizite sich verfestigen.
- Gesetzliche Rahmenbedingungen Einrichten von Regelungen, die Mehrsprachigkeit berücksichtigen. Klarere gesetzliche Rahmenvorgaben dafür, wie mit sprachlich-kultureller Vielfalt in der Versorgung umgegangen werden soll. Sicherstellung, dass Logopäden nicht in rechtlicher oder abrechnungstechnischer Unsicherheit sind, wenn sie mit Kindern arbeiten, deren Eltern nicht gut Deutsch sprechen.
- Öffentlichkeitsarbeit und Entmystifizierung Aufklärungskampagnen, um verbreitete Mythen (z. B. dass Herkunftssprache den deutschen Spracherwerb stört) zu korrigieren – sowohl in der breiten Bevölkerung als auch bei Ärzten, KiTa-Pädagogen und Entscheidungsträgern.

Unser Fazit
Die Sprachbarriere in der Logopädie ist kein Randproblem, sondern eine Kernherausforderung in einer zunehmend sich verändernden Gesellschaft. Es geht nicht nur darum, Kinder mit echten Sprachentwicklungsstörungen sicher zu identifizieren, sondern auch darum, Eltern verständlich einzubinden, sprachliche Ressourcenvorteile zu nutzen und mögliche Defizite frühzeitig zu fördern.
Besonders kritisch ist dabei, dass logopädische Therapie ohne einen funktionierenden kommunikativen Austausch zwischen Therapeuten und Eltern kaum wirksam sein kann. Fehlende Verständigung und mangelnder Abgleich über Ziele, Übungen und Fortschritte führen dazu, dass die Arbeit der Logopäden in der Praxis häufig ins Leere läuft. Ein erfolgversprechender Therapieansatz kann nur dann gelingen, wenn Logopädie und Elternhaus eng zusammenarbeiten, sich gegenseitig verstehen und gemeinsame Verantwortung für den Spracherwerb des Kindes übernehmen.
Ohne strukturelle Änderungen – in Ausbildung und Fortbildung, in Diagnostikstandards, in Vergütungsmodellen sowie in der Bereitstellung von Ressourcen für interkulturelle Kommunikation und Übersetzung – drohen wertvolle Entwicklungszeitfenster ungenutzt zu bleiben. Chancengleichheit für mehrsprachige Kinder bleibt dann eine wohlmeinende, aber abstrakte Forderung.
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